Rede von Kerstin Tack im Deutschen Bundestag am 3. Dezember 2015

Quelle: "Deutscher Bundestag"

Das Video zur Rede finden Sie auch auf der entsprechenden Seite des


Deutscher Bundestag 3.12.2015

Tagesordnungspunkte 15 a und 15 b

Entwicklungsstand und Umsetzung des Inklusionsgebotes in der Bundesrepublik Deutschland

Rede Kerstin Tack (SPD):

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her­ren! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Ich möchte da­mit beginnen, den Angehörigen derer mein Beileid und meine Anteilnahme auszusprechen, die gestern in einer Einrichtung der Behindertenhilfe in Kalifornien Opfer eines Schusswaffenangriffs geworden sind, 17 an der Zahl, vielleicht noch mehr; das wissen wir noch nicht. Auch wenn wir noch keine näheren Einzelheiten kennen, ist festzuhalten, dass solche Dinge auch vor Einrichtun­gen der Behindertenhilfe nicht haltmachen. Ich glaube, an dieser Stelle und an diesem Tag muss Raum sein, zu sagen, dass unsere Gedanken bei den Angehörigen der Opfer sind und wir diesen Angriff verurteilen.

Mit der Staatenberichtsprüfung, die wir im Mai erst­mals für die Umsetzung der UN-Behindertenrechtskon­vention in Deutschland hatten, haben wir eine ganze Reihe von Empfehlungen und Anregungen bekommen für die künftige Entwicklung in Deutschland zur Umset­zung der UN-Behindertenrechtskonvention auf dem Weg zu einer inklusiven Gesellschaft. Wir haben aber auch mitbekommen – es ist immer so einfach, zu sagen, wo es nicht gut läuft –, an welchen Stellen wir uns in den vergangenen Jahren schon in Richtung einer inklusiven Gesellschaft entwickelt haben. Ich freue mich, dass wir uns insbesondere mit der Frage der Bewusstseinsbildung befassen – das ist die größte Herausforderung bei der Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention –, dass wir uns mit der Frage befassen, wie wir einen Bewusst­seinswandel schaffen und die allergrößten Barrieren ab­bauen können, nämlich die Barrieren in den Köpfen der Menschen.

Der Abbau dieser Barrieren ist der größte Hemmschuh für die Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonventi­on. Der Gesetzgeber ist da ein Player durch die Rahmen­bedingungen, die er setzen muss. Aber auch alle anderen, die Zivilgesellschaft, die Wirtschaft, die Kirchen, sind ge­fragt, zur Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonven­tion beizutragen und sich nicht auf den Bundesgesetzge­ber zu verlassen; denn er kann mit Rahmenbedingungen keine Köpfe verändern, sondern nur Rahmenbedingun­gen in Form von Gesetzen setzen.

Ich möchte mich auf den Arbeitsmarkt konzentrieren, weil ich glaube, dass der inklusive Arbeitsmarkt eine Schlüsselfunktion für eine inklusive Gesellschaft und für die Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonventi­on hat. Vor wenigen Tagen ist das Inklusionsbarometer Arbeit erschienen. Es belegt, dass wir mit einer Zahl von 1,15 Millionen Menschen, die im allgemeinen Arbeits­markt untergekommen sind, ein Rekordniveau erreicht haben, auf dem wir uns zwar nicht ausruhen, das wir aber durchaus zur Kenntnis nehmen. Gleichzeitig – da wird es dann schon kritisch – stieg die Zahl der arbeitslosen Menschen an. Die Arbeitslosenquote ist unter schwerbe­hinderten Menschen doppelt so hoch wie bei Menschen ohne eine Beeinträchtigung. Insbesondere psychisch er­krankte und geistig behinderte Menschen haben einen erschwerten Zugang zum Arbeitsmarkt. Das zeigt: Hier ist ein Bewusstseinswandel, auch in der Wirtschaft, von ganz großem Nutzen. Deshalb freue ich mich, dass wir hier in den letzten zwei Jahren eine ganze Menge dazu auf den Weg gebracht haben. Ich möchte das gerne er­läutern.

Wir haben mit der Initiative Inklusion und ihren vier Zielen genau an der Stelle angesetzt.

Wir geben 80 Millionen Euro dafür aus, dass 20 000 schwerbehinderte Schülerinnen und Schüler mittels Praktika beim Übergang von der Schule ins Berufsleben unterstützt werden. Wir haben mit der Wirtschaft 1 300 neue Ausbildungsplätze für schwerbehinderte junge Menschen vereinbart. Dafür geben wir 15 Millionen Euro aus. Wir haben 4 000 neue Arbeitsplätze für über 50-Jährige mit Schwerbehinderung vereinbart. 40 Millionen Euro stehen dafür zur Verfügung. Und wir haben zusammen mit den Handwerkskammern besprochen, dass deren Kompetenz zur Inklusion am Arbeitsmarkt dadurch gesteigert werden soll, dass sie für noch einmal 5 Millionen Euro eigene personelle Ressourcen einkaufen bzw. Menschen dafür anstellen können. Ich finde, das ist gut und zeigt, dass es angekommen ist und es unabhängig von der Frage, was wir mit Gesetzen regeln, ein immer stärker werdendes Bewusstsein der Unternehmen gibt, sich hier zu engagieren.

Wir haben mit der Inklusionsinitiative für Ausbil­dung und Beschäftigung auch die Sensibilisierung der Sozialpartner erreicht, die sich verpflichtet haben, in diesem Bereich tätig zu werden. Mit der Initiative „In­klusion gelingt!“ haben die Arbeitgeber, der Deutsche Industrie- und Handelskammertag, der Zentralverband des Deutschen Handwerks und andere sich verpflichtet, zu informieren, praxisnahe Beispiele zu kommunizieren und entsprechend zu werben. Wir haben mit der Allianz für Aus- und Weiterbildung erreicht, dass insbesondere kleine und mittelständische Unternehmen mit der As­sistierten Ausbildung, mit der begleiteten betrieblichen Ausbildung und schlussendlich auch mit der Unterstütz­ten Beschäftigung hier mehrere Instrumente zur Verfü­gung haben, um auch Menschen mit schwerer Behin­derung das Arbeiten auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt zu erleichtern und ihnen Arbeitsplätze zur Verfügung zu stellen. Ich finde, das ist Bewusstseinsbildung, die eben beides umfasst: auf der einen Seite die Umsetzung von inklusiven Gedanken, auf der anderen Seite aber auch klare Zielzahlen, die messbar sind und mit denen wir auch messen wollen.

Schlussendlich ist es aber auch so, dass wir bei der Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention sicher­lich nicht von einem einzigen Gesetz reden können, auch wenn heute versucht wird, die komplette Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention am Bundesteilhabegesetz festzumachen. Das ist doch ein bisschen mau.

Denn: Die Umsetzung der UN-Behindertenrechtskon­vention ist eine Daueraufgabe aller Ebenen, aller Struk­turen und vor allen Dingen auch eine Aufgabe, die sich nicht allein beim Bundesgesetzgeber abzeichnet.

Deshalb würde ich mich freuen, wenn wir es schaff­ten, neben der reinen Debatte um ein einziges Gesetz, zu­mal wir mehr vorhaben, das Thema Bewusstseinsbildung stärker in das Bewusstsein zu rufen; denn wir haben eine Gemeinschaftsaufgabe: vom Bund, von den Ländern, von den Kommunen, von der Wirtschaft, von den Sozi­alverbänden, von den Kirchen und von der kompletten Zivilgesellschaft. Ich glaube, wir tun gut daran, wenn wir an dieser Stelle gemeinschaftlich dafür werben, dass un­sere Gesellschaft eine inklusive Gesellschaft wird, und wir uns nicht an einem einzelnen Gesetz gegenseitig et­was vormachen. Das hielte ich für zu wenig, gerade an einem Tag wie heute.