Rede Kerstin Tack (SPD):

Deutscher Bundestag 03.12.2014

Vereinbarte Debatte anlässlich des Internationalen Tages der Men­schen mit Behinderungen – Mehr Teilhabe er­öffnet neue Perspektiven


Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her­ren! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Liebe Verena Bentele, vor fünf Jahren ist die UN-Behindertenrechts­konvention hier in Deutschland ratifiziert worden. Das war ein ganz wesentlicher Meilenstein für die Interessen der behinderten Menschen und ihre Rechtsstellung in Deutschland.

Die Inklusion, die mit der UN-Behindertenrechtskon­vention auch in Deutschland Einzug gehalten hat, ist ein Paradigmenwechsel gewesen; denn bisher hatten wir im Rahmen der Integration immer gefragt: Was muss der einzelne Mensch tun, um in ein bestehendes System in­tegriert zu werden? Mit der Inklusion drehen wir diese Fragestellung um und fragen: Wie müssen sich die Sys­teme verändern, damit jeder an und in ihnen teilhaben kann? Das alleine war schon ein wesentlicher Baustein, um Inklusion auch in Deutschland inhaltlich zu begrün­den.

Wenn wir uns angucken, wo wir heute, nach fünf Jah­ren UN-Behindertenrechtskonvention, stehen, dann stellt sich zum einen die Frage: Was müssen wir gesetzlich re­geln? Welchen Auftrag haben wir für die Definition ei­nes Handlungsrahmens? Zum anderen geht es um die Frage: Wie ist es um das Bewusstsein in der Gesellschaft für eine inklusive und damit eine sich öffnende Gesell­schaft bestellt?

Im November wurde eine Studie des Allensbacher In­stituts veröffentlicht, die im Auftrag der Bundesvereini­gung Lebenshilfe durchgeführt wurde. Sie enthält er­freuliche und weniger erfreuliche Ergebnisse: 22 Prozent sagen, sie haben von der UN-Behindertenrechtskonven­tion noch nichts gehört. Das sind ganz schön wenige. 40 Prozent sagen, dass sie in ihrem Familien-, Bekann­ten- oder Verwandtenkreis entsprechende Kontakte haben. Aber 50 Prozent geben an, Berührungsängste gegenüber Menschen mit Behinderungen zu haben, insbesondere gegenüber Menschen mit einer geistigen Behinderung, und gar 62 Prozent sagen, sie glauben, dass eine gesell­schaftliche Teilhabe nur beschränkt möglich ist.

Daran erkennen wir, wie groß die Notwendigkeit ist, dass wir unsererseits gute Rahmenbedingungen schaf­fen, aber auch, wie sehr eine entsprechende Bewusst­seinsbildung in der Gesellschaft erforderlich ist, damit wir mit unserem Gesamtanliegen – mit beiden Berei­chen – weiterkommen.

Deshalb haben wir uns auch in dieser Legislaturpe­riode beeindruckend viel vorgenommen: Das BGG wird verändert, wir werden für die Barrierefreiheit einiges tun, wir werden das AGG bearbeiten, und wir werden im Petitionsausschuss Barrierefreiheit herstellen. An über 20 Stellen des Koalitionsvertrages stehen konkrete Maß­nahmen für Menschen mit Behinderungen; dies werden wir umsetzen.

Das wichtigste Vorhaben wird aber sicherlich das Bundesteilhabegesetz sein. Es wird sich daran messen lassen müssen, ob damit tatsächlich ein Paradigmen­wechsel vollzogen wird – hin zu der Sichtweise des ver­sorgenden, des fürsorgenden Staates – und ob wir die Teilhabe, die Selbstbestimmung und das Wunsch- und Wahlrecht tatsächlich in geltendes Recht umsetzen kön­nen und damit im Sinne der Menschen mit Behinderun­gen in unserem Land einen wirklich echten Schritt vor­wärtskommen.

Deshalb haben wir uns vorgenommen, innerhalb des Gesetzes klar zu sagen: Das Wunsch- und Wahlrecht ist das A und O, wenn es darum geht: Wie will ich leben? Wo will ich leben? Wo und wie will ich arbeiten? Wo möchte ich mich gesellschaftlich beteiligen? Wir sagen: Das Wunsch- und Wahlrecht ist die wesentliche Voraus­setzung für die Gewährleistung von Teilhabe. Deshalb steht das ganz klar im Fokus und im Grunde genommen als Überschrift über dem Gesetz.

Wir sagen aber auch: Wir wollen, dass die Geldleis­tungen zur Teilhabe entsprechend den Wünschen an die jeweiligen Personen und nicht einrichtungszentriert aus­gezahlt werden. Für uns ist völlig klar, dass es in Deutschland keine unterschiedliche Bedarfsermittlung geben kann, wenn es um die entsprechenden Belange geht. Egal ob ich in Berlin oder in Bayern lebe: Es muss eine Standardisierung bei der Frage geben, wie eine Be­darfsermittlung vorzunehmen ist. Wir müssen weg von über 600 Verfahren zur Bedarfsermittlung, die es im Mo­ment gibt.

Einer der wesentlichen Punkte sind an dieser Stelle bundeseinheitliche Standards für eine gute, flächende­ckend in Deutschland angewandte einheitliche Bedarfs­ermittlung; diese brauchen wir dringend.

Frau Bentele hat es schon sehr deutlich gesagt, und auch uns geht es darum, dass Einkommen und Vermögen für den Nachteilsausgleich eingesetzt werden, also für die soziale Teilhabe, und nicht für den Lebensunterhalt. Das ist unser Anliegen. Wir wollen die soziale Teilhabe gewähren, unabhängig von Einkommen und Vermögen.

Außerdem wollen wir selbstverständlich ein Recht auf Sparen. Warum auch nicht? Jeder, der arbeitet – das gilt auch für eine Werkstatt für Menschen mit Behinde­rungen –, muss das Recht haben, Geld zurückzulegen. Das halten wir für selbstverständlich. Deshalb werden wir an diese Sache herangehen. Wir haben hier die Schnittstellen zur Pflege und zur Gesundheitsversorgung sowie zum SGB VIII im Blick; das ist bereits gesagt worden.

Ich will zum Schluss sagen, dass wir von den Ländern enttäuscht sind, die sich bei der Arbeits- und Sozial­ministerkonferenz in der vergangenen Woche mit großer Mehrheit dagegen entschieden haben, sich an einem Fonds für Kinder aus Heimen der Behindertenhilfe zu beteiligen. Wir erwarten, dass es in dieser Richtung Be­wegung gibt. Genauso wie wir einen Fonds für die Kin­der aus Erziehungsheimen in Ost und West eingerichtet haben, wollen wir auch für behinderte Kinder einen ent­sprechenden Fonds erreichen; selbstverständlich. Des­wegen ist unsere deutliche Erwartung an die Länder, sich hier nicht aus der Solidarität und der Gemeinschaftsauf­gabe zu verabschieden, sondern für eine gute Ausstat­tung des Fonds zu sorgen.

Herzlichen Dank.