Rede von Kerstin Tack im Deutschen Bundestag 04.04.2014

Quelle "Deutscher Bundestag"

Das Video zur Rede finden Sie auch auf der entsprechenden Seite des

Kerstin Tack, MdB
Rede im Deutschen Bundestag 04.04.2014

Tagesordnungspunkte 19 a und 19 b:

a) Antrag der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Fünf Jahre UN-Behindertenrechtskonvention – Sofortprogramm für Barrierefreiheit und gegen Diskriminierung (Drucksache 18/977)

b)Antrag der Fraktion DIE LINKE
Programm zur Beseitigung von Barrieren auflegen (Drucksache 18/972)


Kerstin Tack (SPD):

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrte Damen und Herren!

Die UN-Behindertenrechtskonvention, die Deutschland vor fünf Jahren ratifiziert hat, verpflichtet uns alle, Teilhabe an allen Lebensbereichen dieser Gemeinschaft zu ermöglichen. Aus dieser Verpflichtung, die wir eingegangen sind, haben wir geeignete Maßnahmen abzuleiten; denn wir sind zuständig für die Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention.

In Deutschland leben 17 Millionen Menschen mit Behinderungen. Nur rund 2 Prozent von ihnen sind von Geburt an bzw. vom ersten Lebensjahr an behindert. Das heißt, dass im Laufe des Lebens Behinderung uns alle ereilen kann. Deshalb ist die Zielgruppe, über die wir reden, beeindruckend groß.

Die Koalition hat sich richtig viel vorgenommen: Erstmals in der Geschichte der Bundesrepublik finden die Belange von Menschen mit Behinderungen in einem Koalitionsvertrag flächendeckend Berücksichtigung.

Das ist eine große Errungenschaft. Diese Maßnahmen finden sich im Koalitionsvertrag nicht nur unter „Menschen mit Behinderungen“ wieder, sie finden sich – das werden wir im Laufe der Debatte noch vorgetragen bekommen – auch in jedem weiteren Kapitel.

Aber ich will auch sagen, dass die Anträge der Opposition doch recht enttäuschend sind. Wenn ich sehe, dass die Kollegin der Grünen anlässlich fünf Jahren Behindertenrechtskonvention ausschließlich fordert, dass wir das Behindertengleichstellungsgesetz und das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz ändern, muss ich ehrlich sagen: Da wollen wir eindeutig mehr als Handlungsauftrag aus der UN-Behindertenrechtskonvention ableiten.

Vizepräsidentin Claudia Roth:
Frau Kollegin, erlauben Sie eine Zwischenfrage/-bemerkung von Markus Kurth?

Kerstin Tack (SPD):
Selbstverständlich darf Herr Kurth zwischenfragen.

Markus Kurth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Sie sagen, Sie haben sich wesentlich mehr vorgenommen.

Kerstin Tack (SPD):
Ja.

Markus Kurth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):

Wie ist es denn dann zu deuten, dass Sie zwar im Koalitionsvertrag das Bundesteilhabegesetz angesprochen und den Kommunen im gleichen Zuge eine Entlastung um 5 Milliarden Euro jährlich in Aussicht gestellt haben, dies in der vorletzten Woche aber kurzerhand einfach in die kommende Legislaturperiode verschoben haben, auf das Jahr 2018, wenn Sie ja womöglich gar nicht mehr regieren?

Kerstin Tack (SPD):
Herr Kollege Kurth, ich gehe davon aus, dass Sie, wie alle anderen Kolleginnen und Kollegen des Hohen Hauses auch, den Koalitionsvertrag intensiv gelesen haben und selbstverständlich in der Lage sind, daraus abzuleiten, wie sich unsere 23 Milliarden Euro zusammensetzen, weil Sie ja nicht nur lesen, sondern auch rechnen können. Das, was schon gestern diskutiert wurde, ist richtig: Wir werden das Bundesteilhabegesetz im Jahr 2016 zur Verabschiedung bringen, und es wird in 2017 in Kraft treten. Das ist unsere Aussage dazu.

Frau Kollegin, vielleicht ist das auch der Grund dafür, dass Sie in Ihrem Beitrag hier schlussendlich gar nichts zu Ihrem Antrag gesagt haben. Ich gehe davon aus, dass fünf Jahre UN-Behindertenrechtskonvention natürlich auch für Sie Anlass sind, mehr zu tun, als sich nur die zwei Gesetze anzugucken.
Bei der Kollegin der Linken erleben wir das, was wir schon kennen: 1 Milliarde Euro ist das Mindeste, was man grundsätzlich in jedem Antrag fordert, ohne dass man sagt, wo das Geld herkommen soll. Auch hier will ich sagen: Barrierefreiheit ist eine Selbstverständlichkeit. Wir werden sie bei den weiteren Maßnahmen zur Städtebauförderung und anderem selbstverständlich realisieren. Genau so, wie von Ihnen gefordert, ist auch das Teil unseres Koalitionsvertrages, den wir umzusetzen gedenken.

Mit dem modernen Bundesteilhabegesetz, das wir in dieser Legislaturperiode auf den Weg bringen, werden wir genau diesen Anspruch auf Teilhabe in der Gesellschaft umfassend umsetzen. Wir wollen die soziale Teilhabe aus dem bisherigen Fürsorgesystem der Sozialhilfe herausholen und es als eigenständiges Recht im SGB IX verankern. Allein das ist ein Paradigmenwechsel, den wir aus der UN-Behindertenrechtskonvention als Auftrag für uns definieren. Um auch das deutlich zu sagen: Mit der Herausnahme aus der Sozialhilfe ist selbstverständlich auch das Bedürftigkeitsprinzip obsolet.

Selbstverständlich haben wir auch die Kosten im Blick, deren Anstieg ja nicht daraus resultiert, dass die Menschen ein immer größeres Geldbudget zur Verfügung gestellt bekommen, sondern ausschließlich daraus, dass die Zahl der Leistungsberechtigten massiv angestiegen ist. Haben noch im Jahre 2000 525 000 Menschen Eingliederungshilfe erhalten, so waren es 2012 bereits 821 000 – mit steigender Tendenz –, und selbstverständlich zieht das eine Spirale nach sich.

Was lernen wir daraus? Daraus muss man doch den Rückschluss ziehen, dass man insbesondere bei der Antwort auf die Frage, wie man die Hilfe steuern sollte, anders, passgenauer, personen- und nicht institutionenzentriert vorgehen und ein neues Leistungspaket überdenken muss. Genau das steht im Koalitionsvertrag, und das werden wir machen.

Meine Damen und Herren, Behinderung ist ein Lebensrisiko, das jeden von uns individuell treffen kann. Gleichzeitig ist Behinderung kein personengebundenes Schicksal, sondern es sind die Rahmenbedingungen der Gesellschaft, die Behinderung produzieren.

Vizepräsidentin Claudia Roth:
Kommen Sie bitte zum Schluss.

Kerstin Tack (SPD):
Ja, mache ich. – Deshalb ist für uns völlig klar: Behinderung darf nicht arm machen. Das betrifft die behinderten Personen selber, aber auch die Lebenspartner der Personen. Auch das wird uns ein Anliegen sein: dass selbstverständlich jede Person, egal ob mit oder ohne Behinderung, zur sozialen Teilhabe eigenes Einkommen ansparen und einsetzen darf. Das ist unser Leitthema; das werden wir vorlegen.

Wir sind uns sehr sicher, dass wir in drei Jahren ein sehr zufriedenstellendes Teilhabegesetz auf den Weg bringen können.

Herzlichen Dank.