Rede von Kerstin Tack im Deutschen Bundestag am 16. Januar 2015

Quelle: "Deutscher Bundestag"

Das Video zur Rede finden Sie auch auf der entsprechenden Seite des


Rede von MdB Kerstin Tack, SPD

Deutscher Bundestag 16.01.2015, TOP 18


Nationaler Bildungsbericht – Bildung in Deutschland 2014


Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kolle­gen! Sehr geehrte Damen und Herren!

Seit jeher wissen wir: Bildung ist der Schlüssel und die Eintrittskarte zu einem selbstbestimmten Leben, zu gesellschaftlicher Teilhabe und zu ökonomischer Unabhängigkeit. Weder die soziale oder ethnische Herkunft noch die religiöse Weltanschauung, das Geschlecht, das Alter, die Sexuali­tät oder der Umstand einer Behinderung sollen hier be­einflussend wirken. Deshalb möchte ich mich in meiner Rede auf das Schwerpunktthema des Berichtes fokussie­ren, nämlich auf die Menschen mit Behinderung.

Schauen wir uns die aktuelle Datenlage an, so sehen wir, dass wir in unserer Verantwortungsgemeinschaft beim Umgang mit Menschen mit Behinderung, bei der Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention und hinsichtlich eines inklusiven Bildungssystems noch ei­nen langen Weg vor uns haben.

35 Prozent der Kindertagesstätten in Deutschland ar­beiten im Moment inklusiv, das heißt, dort werden Kin­der mit und ohne Behinderung gemeinschaftlich betreut, erzogen und gebildet. 35 Prozent: Diese Zahl ist nicht klein, aber deutlich ausbaufähig.

Im Bereich der Schule haben 6,6 Prozent der Kinder einen sonderpädagogischen Förderbedarf. Das sind eine halbe Million Kinder und Jugendliche. 72 Prozent von ihnen gehen in die Förderschule. Lediglich 28 Prozent werden also in einer allgemeinbildenden Schule be­schult. Auch das ist deutlich steigerungsfähig.

Zwar besuchen immer mehr Kinder und Jugendliche mit und ohne Behinderung gemeinsam unsere Kitas und Schulen, doch diese Zahl nimmt mit steigendem Alter ab, das heißt, vom Besuch einer Kita an wird mit jedem weiteren Übergang – von der Kita zur Grundschule, von der Grundschule zur weiterführenden Schule – erneut se­lektiert, wodurch junge Menschen – insbesondere mit Behinderung – aus dem Bildungssystem herausfallen. Das kann nicht unser Anspruch an ein inklusives, ge­meinsames Bilden und Lernen in Schulen sein.

Fast drei Viertel der Förderschülerinnen und -schüler haben überhaupt keinen Schulabschluss. Auch da ist un­ser Anspruch ein anderer.

Ein großes Defizit – Frau Wanka hat es erwähnt – be­steht auch in der Fortbildung der Lehrkräfte. Obwohl 70 Prozent der Grundschullehrkräfte – Sie hatten es er­wähnt – einen Bedarf an Fort- und Weiterbildung an­gemeldet haben, haben real aber nur 9,5 Prozent ein solches Angebot angenommen. Bei den Gymnasiallehr­kräften sind es gerade einmal 2 Prozent. Das heißt, selbst wenn eine Schule Fortbildung anbietet, so ist die Wahr­nehmung dieses Angebots doch immer noch sehr über­schaubar.

Ausbildungsuchende junge Menschen müssen eine doppelte Einschränkung hinnehmen. Zum einen gingen zwischen 2009 und 2012 sowohl die Zahl der neu abge­schlossenen Ausbildungsverträge als auch das Angebot und die Nachfrage nach Ausbildungsverhältnissen um jeweils circa 30 Prozent zurück. Zum anderen steht ih­nen sowieso nur ein begrenztes, institutionell definiertes Berufsspektrum zur Verfügung.

Im Bereich der akademischen Ausbildung waren 2012 lediglich ein Siebtel aller Studierenden durch eine Behinderung oder eine chronische Erkrankung beein­trächtigt und haben aufgrund ihrer Beeinträchtigung Nachteile im Studium erfahren. Häufig wechseln sie die Hochschule und ihr Studienfach. Häufig kommt es zu Abbrüchen, und es gibt Schwierigkeiten bei den Prü­fungsordnungen. Häufig brauchen sie mehr Zeit, um ihr Studium zu absolvieren. Die Prüfungssituation erleben sie als schwieriger, als es für Studierende ohne Beein­trächtigung der Fall ist. Deshalb muss die Unterstützung für diese Studierenden eine ganz besondere sein.

Wir sehen also: Wir sind im Bildungssystem noch eine ganze Ecke von den von uns erklärten Zielen ent­fernt. Ich denke, es reicht auch nicht, ein Kind aus einer Förderschule in eine allgemeinbildende Schule zu ste­cken und ihm einige wenige Förderstunden zu geben. Das ist, wenn man es bei Lichte betrachtet, nicht mehr als eine Einzelintegration. Was wir wollen, ist Inklusion. Wir wollen die Veränderung der Systeme. Wir wollen, dass durch unsere Systeme allen Kindern und Jugendli­chen eine gute Förderung organisiert wird, eine gute Un­terstützung, die jedem, völlig unabhängig davon, ob mit oder ohne Behinderung, einen erfolgreichen Bildungs­weg ermöglicht.

Aber wir sehen – das macht auch der Bericht deutlich –: Es gibt Hürden bei der Umsetzung. Natürlich sind die unterschiedlichen Regelungen in den Schulsystemen der Bundesländer nicht immer hilfreich. Es ist kein Geheim­nis, wenn ich sage, dass wir uns als SPD-Fraktion hier eine stärkere Beteiligung des Bundes bei der Standard­setzung, aber auch bei der finanziellen Unterstützung der Umsetzung wünschen.

Sosehr wir uns über den Wegfall des Kooperationsver­botes im Hochschulbereich freuen, so sehr wünschen wir uns natürlich, dass weiter gehende Maßnahmen ergriffen werden.

Die Definition von inklusiver Bildung ist in den Bun­desländern sehr unterschiedlich. Das ist ein Problem, wenn wir unsere einheitlichen Standards, die wir für richtig halten, umsetzen wollen. Auch die sehr unein­heitlichen Diagnoseverfahren führen in der Regel dazu, dass es wenig einheitliche Lebensbedingungen für Kin­der und Jugendliche mit Behinderungen im deutschen Bildungssystem gibt. Deshalb möchten wir einen Schwerpunkt in der Bildungsforschung setzen, insbeson­dere wenn es darum geht, gute Rahmenbedingungen für eine erfolgreiche inklusive Bildung zu definieren und sie über alle Länder hinweg in einer Gemeinschaftsverant­wortung umzusetzen.

Wir brauchen dringend auch eine Forschung dahin gehend, welche digitalen und analogen Instrumente hilf­reich sind, um Menschen mit Behinderung im Bildungs­system eine gute Chance zu gewährleisten.

Wir brauchen eine andere Form der Vernetzung der Akteure: der Ärztinnen und Ärzte, der Pädagoginnen und Pädagogen, der Logopädinnen und Logopäden und anderer, die in Schulen gemeinschaftlich wirken sollen, um für die Begleitung der Kinder konzeptionell das Bestmögliche herausarbeiten zu können.

Klar ist aber auch: Auch Betriebe und Unternehmen müssen sich stärker in der Ausbildung für Jugendliche mit Behinderungen öffnen.

Wir nehmen wahr: Es gibt große Defizite in dem Wissen darüber, welche Unterstützung ein Unternehmer be­kommt, wenn er sich entscheidet, einem jungen Men­schen mit Beeinträchtigung in seinem Unternehmen eine Ausbildung zu ermöglichen. Das heißt, wir haben ein Aufklärungsproblem. Wir haben aber auch das Problem, dass viele Betriebe das immer noch als Benachteiligung, teilweise sogar als Belastung erleben. Wir haben die ge­sellschaftliche Aufgabe, verstärkt über dieses Thema zu informieren und den Wert der Vielfalt in Unternehmen viel deutlicher herauszustellen.

Die Initiative Bildungsketten – auch sie hat Frau Wanka bereits erwähnt – wollen wir gerne fortgeführt sehen. Aber wir wissen auch, dass bei Menschen mit Be­hinderung, die in Ausbildung sind, die Abbrecherquote sehr hoch ist. Daraus leiten wir den Auftrag ab, genauer darauf zu achten, welcher Ausbildungsbereich für die je­weilige Person der richtige ist und was zu schaffen, zu leisten und mit einer guten Unterstützung und gegebe­nenfalls auch mit ausbildungsbegleitenden Hilfen dann auch bis zum Ende durchhaltbar ist.

Im Hochschulbereich stehen wir vor der Herausforde­rung, andere Formen der Studienangebote und Studien­bedingungen zu ermöglichen. Die Möglichkeiten der Nachteilsausgleiche müssen flexibler eingesetzt werden.

Zum Schluss möchte ich mich ganz herzlich bei all den Fachkräften und Lehrkräften bedanken, die sich trotz manchmal unzureichender Rahmenbedingungen tagtäglich darum bemühen, dass Inklusion durch ge­meinsame Beschulung und konzeptionelle Arbeit in den Einrichtungen möglich ist. Diesen Anstrengungen gilt mein ganz herzlicher Dank.

Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.