Interview mit Marietta Jablonski, Hannover

konTACKt: Sie kamen vor rund zwei Jahren zum ersten Mal in die BürgerInnensprechstunde von MdB Kerstin Tack. Was war Ihr Anliegen?

Marietta Jablonski: Da ich an einer Querschnittslähmung leide, bin ich auf einen Rollstuhl angewiesen. 1995 bekam ich einen Elektrorollstuhl, der mir neue Möglichkeiten erschloss. Obwohl ich seit über 20 Jahren in der Gegend wohne, kannte ich sie bis dahin nur aus dem Auto. Mit dem E-Rolli war ich nun in der Lage, bestimmte Wege selbstständig zu erledigen – zum Beispiel zum Arzt, zur Apotheke, zur Bibliothek, zur Bank, in die Drogerie etc.

Ich konnte also am gesellschaftlichen Leben ein kleines Stück mehr teilnehmen als zuvor. Ich konnte Autorenlesungen besuchen, Theater, Konzerte u.a.m. Ich lernte die Vogelsiedlung kennen, die Eilenriede, den Hermann-Löns-Park mit dem Annateich und der historischen Windmühle, den Mittellandkanal, den Altwarmbüchener See, den Laher Friedhof. Auf dem Laher Friedhof liegen mein Vater sowie Freunde und Nachbarn begraben. Ich konnte ins Zentrum fahren, einen Einkaufsbummel machen oder den Schützenplatz besuchen. Ich konnte mit meinen Freundinnen und meinem Mann gemeinsam Fahrrad fahren. So könnte ich noch viele weitere Aktivitäten aufführen, aber das würde den Rahmen sprengen. Meine Lebensqualität hatte sich erheblich verbessert.

Mein E-Rolli Optimus 1 fuhr 10 km/h und hatte eine Fahrstreckenleistung von mindestens 60 km sowie einen Tageskilometerzähler, der mir half, die Kontrolle zu behalten, damit ich nicht überraschend unterwegs liegen blieb. Dieser leistungsfähige Optimus 1 war 17 Jahre alt, als er während einer Reparatur im Sanitätshaus zu Schaden kam. Das Chassis war verzogen. Obwohl mein Arzt und ich energisch dagegen protestierten, bekam ich einen neuen E-Rolli verordnet.

Was ich nicht wusste: In der Zwischenzeit gab es zwei Gerichtsurteile des obersten Sozialgerichts. Das erste Urteil besagt, dass, was 1995 Standard war, nun zum Luxus wurde. Nur noch eine Minimalversorgung wurde mir zugestanden. Das zweite Urteil gibt einem die Möglichkeit, sich den Standard von 1995 (Luxus) durch erhebliche Zuzahlungen zu kaufen. Diese Möglichkeit zur Zuzahlung wurde mir verschwiegen; sie wurde sogar bestritten. Ich musste selbst aufwändige Recherchen durchführen.

Ich sollte also wieder einen großen Teil meiner Lebensqualität einbüßen und einen E-Rolli erhalten, der nur 6 km/h fährt. Um zu meinen Kindern zu kommen, würde ich damit eine Stunde Fahrtzeit (einfach) benötigen, ebenso zur nächsten Bibliothek, die behindertengerecht und für mich nutzbar ist. Meine Freundinnen wohnen 10 km weit entfernt. Sie hätte ich nicht mehr besuchen, nicht mehr mit ihnen Eis essen können, weil der neue E-Rolli diese Leistung nicht erbracht hätte.

Aus diesen Gründen entschloss ich mich zur Zuzahlung, obwohl diese eine erhebliche finanzielle Belastung für mich bedeutete und weiterhin bedeutet. Trotzdem wollte man mir keinen E-Rolli zugestehen, der ähnliche Leistungen wie der 17 Jahre alte Optimus 1 erbringt. Nachdem ich alles erfolglos versucht hatte, wandte ich mich an Frau Tack. Sie half und konnte eine rechtliche Auseinandersetzung verhindern. Danke!

konTACKt: Konnten die Probleme mittlerweile gelöst werden?

Marietta Jablonski: Teils ja, teils nein. Am 15. November 2012 bekam ich meinen neuen E-Rolli – den E-Rolli Optimus 2, den ich überglücklich Frau Tack vorführte. Ich dachte, alle Probleme seien gelöst. Allerdings musste ich feststellen, dass der Optimus 2 nicht die zugesicherten Eigenschaften, sondern stattdessen erhebliche Mängel hatte. Der Hauptmangel ist die Fahrstreckenlänge: Statt der zugesicherten mindestens 60 km fuhr er nur 20 km.

Diesen Mangel reklamierte ich zeitnah schriftlich beim Sanitätshaus. Das Sanitätshaus bestritt den Mangel und behauptete, der Rolli würde bei ihnen eine Fahrstreckenleistung von 100 km erbringen. Bei der Prüfung durfte ich allerdings nicht dabei sein. Das zugesagte Protokoll bekam ich nicht, überhaupt bekam ich nie etwas schriftlich.

Der zweite Probelauf widerlegte die behauptete Fahrstreckenleistung von 100 km, aber nichts wurde geändert. Ich holte Erkundigungen beim KIT (Karlsruher Institut für Technologie), beim ADAC und bei Batterieexperten ein. Der Versuch festzustellen, ob es wirklich an der Batterie lag oder ob andere Mängel bestanden, wurde durch das Sanitätshaus torpediert.

Da ich mit nichts Erfolg hatte, wandte ich mich wieder an Frau Tack – und sie half erneut. Zwar bekam ich keinen neuen E-Rolli, wie es die Gewährleistung per Gesetz verlangt. Stattdessen entschied sich die Krankenkasse zum Einbau einer stärkeren Batterie, die die Fahrstreckenleistung nun erbringen soll.

Ob das stimmt, weiß ich nicht. Das Wetter war in letzter Zeit so unbeständig – viel Regen, wenig Sonnenschein –, dass ich die Leistungsfähigkeit noch zu selten ausprobieren konnte. Bisher hat die neue Batterie allerdings so viel Strom benötigt, dass ich mich vor der nächsten Stromrechnung fürchte. Die Batterie braucht im Moment eine Ladezeit von 20-60 Stunden. Ob ich das finanziell durchhalten kann, weiß ich nicht. Da ich die erweiterte Versorgung, sprich: „Luxus-Versorgung“, gewählt habe, werde ich mit erheblichen zusätzlichen Kosten belastet. Für das Sanitätshaus und den Hersteller hat sich der zusätzliche Batteriewechsel hingegen auf jeden Fall gelohnt: Die Kosten lagen bei 1.402,91 €.

konTACKt: Was raten Sie E-Rolli-Fahrern, die ebenfalls Probleme mit ihren Fahrgeräten haben?

Marietta Jablonski: Sich beschweren und nicht aufgeben – selbst wenn man droht, Sie unter Kuratel zu stellen, weil Sie angeblich die einzigen sind, die dieses Problem haben, weil Sie Meckerfritzen sind, die nur einen Vorteil haben wollen. Denn das stimmt nicht. Würde jemand mit einer Behinderten tauschen? Mit mir wollte es noch keiner.

konTACKt: Auf welche Barrieren stoßen Sie im Alltag, wenn Sie mit dem Elektrorollstuhl unterwegs sind?

Marietta Jablonski: Zuerst einmal möchte ich sagen: Es hat sich viel getan, es hat sich vieles verbessert. Die Stadt Hannover ist bemüht und hat schon vieles geändert. Trotzdem: Wenn ich alle Probleme hier ansprechen würde, würde dies den Rahmen sprengen. Vieles, was ich im Folgenden erwähne, betrifft nicht nur Rolli-Fahrer, sondern auch Eltern mit Kinderwägen und Benutzer von Rollatoren.

1.) Wenn ich die Straße überqueren möchte oder muss, benötige ich Absenkungen, damit der Rolli nicht aufsetzt. Problematisch ist diesbezüglich z. B. die Podbielskistraße. Hier muss ich teilweise erhebliche Umwege fahren, wenn ich die Straße überqueren möchte, da es in der Straßenmitte – dort, wo die Straßenbahn fährt – keine Absenkungen gibt.

2.) Vor den vorhandenen Bordsteinabsenkungen parken oft Autos, so dass ich diese nicht benutzen kann.

3.) Teilweise sind die Bürgersteige so eng, dass man auf dem Fahrdamm zwischen den schnellen Autos fahren muss.

4.) Fahrräder, Kinderwägen und Müll werden auf Gehsteigen so abgestellt, dass man mit einem Rollstuhl nicht vorbeifahren kann. Dann muss ich versuchen zu wenden und einen Umweg fahren.

5.) Oft fehlen Schrägen, um in ein Gebäude zu fahren. Hier möchte ich ausdrücklich die Sparkasse Schierholzstraße loben, die auf meine Bitte hin eine Schräge anlegte. Danke!

6.) Häufig werden an solchen Schrägen dann aber Fahrräder angeschlossen – auch wenn es direkt daneben einen Fahrradständer gibt! Gerne werden die Räder auch vor der Schräge abgestellt. In diesen Fällen kann ich die Rampe nicht benutzen und muss darum bitten, dass die Besitzer der Räder geholt werden.

7.) Bisweilen werden auch Reklameschilder vor die Schrägen gestellt.

8.) Das Passieren von Baustellen, von denen es so viele in der Stadt gibt, ist für Rolli-Fahrer schwer bis unmöglich.

9.) Die Stadt müsste die Straßen sauberer halten. Überall liegt Glas. In der Zeitung stand, dass Radfahrer drei- bis viermal im Jahr eine Panne haben. Rollifahrer können noch schlechter ausweichen als Radfahrer, haben also noch häufiger einen Platten wegen umherliegender Glasscherben. Anfang Mai hatte ich in der Innenstadt einen Platten und stand stundenlang im strömenden Regen an einer Tankstelle, bevor mir geholfen werden konnte.

10.) Ein besonderes Kapitel ist die Fahrt mit der Bahn. Eigentlich könnte ich sie aufgrund meiner Behinderung kostenlos benutzen, aber im Grunde genommen ist Bahnfahren für mich nicht möglich. Teilweise sind die Fahrstühle an den Bahnsteigen zu schmal. Auf den Bahnsteigen gibt es Hebebühnen, aber niemanden, der sie bedienen darf. Im Hauptbahnhof von Magdeburg z. B. haben viele Bahnsteige gar keinen Fahrstuhl; die wenigen Aufzüge, die es gibt, sind, zumindest wenn wir dort sind, immer kaputt. Besonders angenehm ist das, wenn drei Minuten vor Abfahrt Ihres Zuges verkündet wird, dass er nicht fahrplanmäßig vom üblichen Gleis 10 abfährt, sondern heute einmal von Gleis 3, an dem es dann eben auch noch keinen Fahrstuhl gibt. Die freundlichen Antworten, die Sie erhalten, wenn Sie sich bei den zuständigen Stellen beschweren, sind an Zynismus kaum zu überbieten.

11.) In viele Geschäfte kommt man mit dem Rolli nicht hinein, weil sie Treppen haben oder die Gänge zu eng sind.

12.) Auch an unserer Eigentümerversammlung kann ich nicht teilnehmen. Es gibt am Versammlungsort keinen Fahrstuhl, nur Treppen. Der Vorstand der Wohnungsgesellschaft teilte mir auf Nachfrage lediglich mit, sie seien als Privatunternehmen nicht verpflichtet, mir Zugang zu den Eigentümerversammlungen zu gewähren. Mein Verständnis für diese Situation setzen sie dreist voraus.

13.) Behindertentoiletten werden, wo vorhanden, gerne missbraucht, um Eimer, Toilettenpapier, Papierhandtücher, Putzmittel, Getränkeflaschen u. Ä. abzustellen. Platz für einen Rolli ist nicht vorgesehen.

14.) In Hotels sind behindertengerechte Zimmer, sofern es sie gibt, gerne an besonderen Orten eingerichtet: direkt über den Müllkübeln, mit Blick auf den Hinterhof. Ich muss aber sagen, dass es zum Glück auch sehr positive Beispiele gibt mit vorzüglichen Pflegebetten und behindertengerechten Badezimmern.

15.) In Behörden gibt es häufig nur eine einzige Behindertentoilette, die oft genug gar nicht wirklich behindertengerecht ausgestattet ist.

16.) Für mich oft nicht zu erreichen: Briefkästen, die so hoch angebracht sind, dass ich Post dort nicht ohne fremde Hilfe einwerfen kann. Auch dies ist gerne bei Behörden der Fall.

17.) Mein Wahllokal ist seit 1978 nicht für E-Rolli-Fahrer benutzbar, da der Absatz in das Gebäude zu hoch für den Rolli ist, die Türen zu eng sind und man sich im Raum mit dem Rolli nicht bewegen kann. Meine „geheime“ Wahl findet daher draußen und für jeden einsehbar statt, nicht in der Wahlkabine. Ein freundlicher Wahlhelfer oder eine freundliche Wahlhelferin kommt heraus, setzt sich mit dem Rücken zu mir hin, so dass ich mein Kreuzchen machen kann. Seit 1978 rege ich an, dass sich das ändern muss. „Wir geben es weiter“, lautet stets die Antwort. Ich habe versucht, im Neuen Rathaus Briefwahl zu machen, aber zum Klingeln benötige ich Hilfe. Außerdem war man empört, welche Ansprüche ich stelle. Da wähle ich doch lieber „geheim auf dem Rücken der hilfsbereiten, netten Wahlhelfer“!

18.) Auch um beim Sanitätshaus zu klingeln, benötige ich Hilfe. Leider liegt es in einer Straße, wo man selten Fußgänger trifft, die man um Hilfe bitten könnte. Die Berater des Sanitätshauses sitzen – nur über eine Treppe erreichbar – einen Stock höher …

19.) Manchmal hat man Glück und eine Arztpraxis besitzt einen Fahrstuhl. Besonders freue ich mich dann, wenn dieser so eng ist, dass mein Mann den Schieberolli nicht nur zusammenklappen, sondern ihn auch hoch über den Kopf heben muss. Bei meiner Zahnärztin ist der Fahrstuhl schon seit Anfang des Jahres kaputt, so dass uns nette Leute helfen müssen. Ich könnte natürlich auch die sehr teure Variante wählen und mich mit einem Krankentransport zur Praxis bringen und wieder abholen lassen …

20.) Behindertenparkplätze werden gerne von Nichtbehinderten belegt. Traut man sich, darauf hinzuweisen, erhält man als Antwort: „Du bekommst gleich ein paar in die Fresse!“ Und das ist noch die nettere Variante. Am meisten erfreut es mich, wenn jemand zu mir sagt: „Früher hätte man so etwas wie Dich vergast.“ Auf eine Entschuldigung wartet man vergebens. In den USA und in Kanada werden Behindertenparkplätze in der Regel frei gehalten. Warum? Weil bei Nichtbeachtung empfindliche Geldstrafen fällig werden!

Ich könnte noch viele Seiten mit heiteren Geschichten über behindertengerechtes Alltagsleben füllen. Nur würde das vielleicht zu sehr das Bild vom überraschten Gesunden stören, der nicht weiß, wie er sich einer Behinderten gegenüber verhalten soll und darum ungeschickt reserviert ist. Wahrscheinlich gibt es auch die anderen, nur treffe ich sie nie.

Eine Kurzfassung dieses Interviews ist im Newsletter der hannoverschen SPD-Bundestagsabgeordneten Kerstin Tack, konTACKt, Ausgabe 2/2014, erschienen.