Da sich die 15jährige Linda Polley sehr für Politik interessiert, hatte sie bei Kerstin Tack nachgefragt, ob sie einmal einen Einblick in die Arbeit einer Bundestagsabgeordneten in Berlin bekommen kann. Zum verabredeten Zeitpunkt vom 21.-23.April 2010 fand auch eine von der SPD-Bundestagsfraktion organisierte Veranstaltung zum Girls Day statt, so dass sie an diesen Programmpunkten auch teilnehmen konnte.
Hier Lindas Schilderung über ihre Tage in Berlin:

Nachdem mein Zug mit Verspätung in Berlin angekommen ist, unser Taxifahrer uns eine gute halbe Stunde auf allen möglichen Umwegen zum Hotel geschaukelt hat, in dem wir schnell eingecheckt haben, komme ich leicht verschwitzt beim Reichstagsgebäude an. Die Sonne scheint grell durch die Reste der Regenwolken, eiskalter Wind kräuselt die Oberflächen der Pfützen. Das Bauwerk, in dem die Spitze der deutschen Politik tagt, bäumt sich wie ein gewaltiger Berg vor mir auf.

In fünf Minuten soll ich spätestens am linken Eingang des Westportals sein. Ich laufe zweimal an der Menschentraube vorm Besuchereingang vorbei, dann sehe ich eine Gruppe von etwa fünfzehn Mädchen meines Alters. Also stelle ich mich dazu, werde von einer Betreuerin gefragt, ob ich am Girls’-Day-Programm teilnehme und ein paar Minuten später betreten wir zusammen das Gebäude.
Drinnen geht es zu wie im Flughafen, wir müssen unsere extra dafür mitgebrachten Lichtbildausweise vorzeigen und unsere Taschen und Jacken werden kontrolliert. Eine Flüssigkeitsbegrenzung scheint es allerdings nicht zu geben und auch unsere Schuhe dürfen wir anbehalten. Interessant - der Hannover Airport ist offenbar sicherer als der deutsche Reichstag.

Ein riesiger Fahrstuhl befördert uns auf die Besucherebene, wir geben unsere Sachen an einer Garderobe ab und nehmen auf einer der sechs Besuchertribünen Platz. Von oben wirkt der Plenarsaal sehr klein, dass ich mich frage, ob dort wirklich 622 Abgeordnete reinpassen. Aber der Eindruck täuscht, wie uns bei einem Vortrag erzählt wird, allein der silberfarbene Reichsadler, der gegenüber von uns im Zentrum der Wand hängt, hat mit 58 m2 die Ausmaße einer Zweizimmerwohnung.
Nachdem wir Weiteres über das Reichtagsgebäude und seine Geschichte gehört haben, besichtigen die meisten von uns die gläserne Kuppel, die mit fast 24m übrigens genauso hoch ist wie das Gebäude. Im rötlichen Abendlicht haben wir eine wunderbare Aussicht über die Stadt.

Am Donnerstagmorgen reißt mein Handywecker mich bereits um 5:30 Uhr aus dem Schlaf, denn gut anderthalb Stunden später treffen wir Mädchen uns am Nordeingang des Reichtagsgebäudes. Weil ich mit dem öffentlichen Verkehrssystem in Berlin noch nicht ganz vertraut bin, fahre ich lieber zu früh los als zu spät, was sich auch auszahlt, da ich nach der dritten U-Bahn-Station feststellen muss, dass ich in die falsche Richtung unterwegs bin.
Heute komme ich mir noch mehr vor wie auf dem Flughafen, da fast alle der über 60 Teilnehmerinnen einen Koffer dabei haben. Entsprechend lange dauert die Sicherheitskontrolle.
Wir betreten zum ersten Mal Teile des Reichtags, die sonst nicht von der Öffentlichkeit besichtigt werden können: Zuerst fahren wir mit dem Fahrstuhl auf die Fraktionsebene, auf der viele der im Fernsehen gezeigten Interviews stattfinden, und sammeln uns im Fraktionssaal der SPD. Dort ist ein großes Frühstücksbuffet aufgebaut, an dem wir uns nach einer kurzen Ansprache bedienen. Endlich treffe ich auch Kerstin Tack, der ich die nächsten zwei Tage bei der Arbeit ein bisschen über die Schulter schaue. Sie erzählt mir während des Frühstücks, dass sie im Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz arbeitet. Bei der Einarbeitung helfen den Abgeordneten zwar ihre Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen, trotzdem weiß ich nicht, ob ich mir zutrauen würde, vier Jahre lang wichtige Entscheidungen über ein Thema zu treffen, mit dem ich mich vorher vielleicht kaum oder gar nicht befasst habe. Ich denke, um Abgeordneter zu werden, braucht man eine Menge Selbstvertrauen und auch Mut.
Nach dem Frühstück werden wir von Frank-Walter Steinmeier begrüßt und können uns mit ihm zusammen fotografieren lassen. Der arme Mann tut mir leid, da er fast eine halbe Stunde lang in die Kamera lächeln muss. Aber wahrscheinlich gewöhnt man sich daran, wenn man länger als Berufspolitiker tätig ist.
Um neun muss Kerstin zu einem Gespräch mit einem Gewerkschafter von der Gewerkschaft Nahrung-Genuss-Gaststätten (NGG) und ich gehe mit etwa 30 anderen Mädchen zum Politikparcours, den zwei wissenschaftliche Mitarbeiterinnen mit uns durchführen. Zuerst machen wir eine kleine Vorstellungsrunde und hören einen Vortrag darüber, wie Gesetze im Bundestag verabschiedet werden und wie eine Sitzungswoche aussieht. Dann spielen wir ein Politik-Memory, bei dem meine Gruppe gewinnt. Als ersten Preis erhalten wir Jahreskalender vom Deutschen Bundestag.
Zwischen zehn und elf machen wir eine Pause, in der wir uns ein wenig auf der Fraktionsebene umsehen. Die Reichstagskuppel ist mit Jalousien verschlossen, weil unten im Plenarsaal eine Sitzung stattfindet, aber wir können durch schmale Lücken zwischen den Stoffbahnen hindurchlugen und auf die Bundesregierung inklusive Angela Merkel und Guido Westerwelle „herabsehen“.
Nach der Pause folgt ein Planspiel zum Thema Gesetzgebung am Beispiel „Wählen ab 16“. Wir werden den im Bundestag vertretenen Parteien zugelost und suchen in unseren Fraktionen nach Argumenten für oder gegen eine Absenkung des Wahlalters. Ich lande passenderweise in der SPD, die sich, genau wie die Linken und Bündnis 90/Die Grünen, für das Wählen ab 16 Jahren ausspricht. Diese drei Parteien haben in unserem Spiel in meinen Augen viel mehr und auch bessere Argumente als Union und FDP, trotzdem wird der Gesetzesentwurf abgelehnt, weil wir linken Parteien einfach zu wenig Sitze haben. Vor dem Planspiel war mir gar nicht so klar, dass alles, was die SPD erarbeitet in dieser Legislaturperiode praktisch im Müll landet, wenn es nicht ein Fünkchen Zustimmung von der Regierung findet. Wie frustrierend es sein muss, monatelang über einem Antrag zu brüten, obwohl man von vornherein weiß, dass er spätestens bei der zweiten Plenarsitzung in die Tonne getreten wird! Wenigstens ist die Arbeit nicht völlig umsonst, denn wenn man wieder an die Regierung kommt, kann man die Anträge ja noch mal stellen.
Kurz vor zwölf endet der Politikparcours und Heidi, eine von Kerstins Mitarbeiterinnen, holt mich und Katrin, eine Girls’-Day-Teilnehmerin aus Hannover, zum Mittagessen ab. Um zu den Bürogebäuden der Abgeordneten zu kommen, müssen wir ins Untergeschoss, da alle zum Bundestag gehörigen Gebäude unterirdisch miteinander verbunden sind. Man muss also den ganzen Tag keinen Fuß vor die Tür setzen, wenn man hier arbeitet – abgesehen vom Weg zur Arbeit und dem Heimweg. Ich fühle mich wie in einer Parallelwelt, wie in einem Film. Niemand kann von außen hineinkommen, nur ich stehe irgendwie mittendrin, die Personen bewegen sich beschäftigt und eilig durch die Gänge, aber keiner scheint mich wahrzunehmen.
Heidi führt Katrin und mich zu einem Kunstwerk von Christian Boltanski, ein Gang mit Wänden aus rostigen Metallschachteln, die jeweils ein Etikett mit dem Namen eines Abgeordneten, seiner Partei und Amtszeit tragen. Es nennt sich das „Archiv der Deutschen Abgeordneten“ und verewigt alle Abgeordneten, die zwischen 1919 und 1999 demokratisch in das deutsche Parlament gewählt worden sind. Entsprechend stellt ein einzelner schwarzer Kasten die Jahre 1933 bis 1945 dar, in denen in Deutschland keine Demokratie herrschte.
Wir gehen in Kerstin Tacks Büro, das sich im Jakob-Kaiser-Haus befindet, welches 60% aller Abgeordnetenbüros beinhaltet und somit auch der größte aller Parlamentsneubauten ist. Im Gegensatz zu dem Gebäude, in dem es sich befindet, sind die drei nebeneinander liegenden Büros von Kerstin und ihren Mitarbeiterinnen sehr klein, trotzdem gefällt mir die moderne helle Innenarchitektur. Im Sommer muss es allerdings ziemlich unangenehm sein, hier zu arbeiten, da sich das Büro im Erdgeschoss befindet und die Fenster daher nur selten geöffnet werden dürfen. Eine Klimaanlage gibt es nicht.
Beim Mittagessen in der Abgeordnetenkantine komme ich mir ein bisschen so vor wie in unserer Schulmensa, abgesehen davon, dass es hier ein deutlich größeres Angebot zu deutlich günstigeren Preisen gibt. Dazu scheint mir die Kost hier gesünder zu sein, die Salattheken bieten ein breites Spektrum aus Gemüsesorten und Antipasti. Warum ist das nicht auch für uns Schüler möglich?
Um 13:00 Uhr werden Katrin und ich zum Plenarsaal gebracht, wo wir uns eine Sitzung zum EU-Beitritt von Island ansehen. Der Sprachstil der meisten Redner wirkt auf mich zunächst ziemlich hochgestochen. Man kann sich wirklich fragen, ob einige so reden müssen, damit der Durchschnittsbürger nicht mehr wahrnimmt, was für ein Müll da gerade den Mund dieser Sprachgenies verlässt. Gott sei Dank fachsimpeln nicht alle so trocken herum und der eine oder andere macht sogar einen kleinen Scherz zum Eyjafjalla – das ist der isländische Vulkan, dessen Staubwolke in der letzten Woche den Flugverkehr über ganz Deutschland lahm gelegt hat. Dafür, dass sich alle Fraktionen im Prinzip einig über den EU-Beitritt Islands sind, dauert die Sitzung für meinen Geschmack viel zu lang. Aber etwas durch seine kleinsten Details unnötig kompliziert zu machen, ist meines Erachtens einfach nur typisch Deutsch.
Etwa eine Stunde später finden wir uns in einem Ausschusssaal ein, in dem die achtköpfige AG von Kerstin sich mit einer Frau von der AWO über Schuldnerberatung berät. Besser gesagt hält der Gast von der AWO eine Art Vortrag und die Abgeordneten stellen kritisch Fragen.
Katrin und ich müssen vor Ende des Gesprächs gehen, da vier SPD-Abgeordnete im Fraktionssaal zu verschiedenen Themen referieren, die alle mit dem Thema „Gleichstellung“ zusammenhängen. Am meisten beeindruckt mich der Vortrag von Daniela Kolbe, die erst dreißig Jahre alt ist und erzählt, dass die meisten Abgeordneten im Prinzip gar nicht geplant haben, in die Berufspolitik einzusteigen, sondern viele durch glückliche Umstände im Bundestag landen. So hat auch sie trotz ihres politischen Engagements nach der Schule erstmal Physik studiert.
Um halb fünf ist das Girls’-Day-Programm zu Ende und wir bekommen alle noch zentnerschwere Beutel mit Büchern, Informationsbroschüren und Anderem geschenkt.
Zurück im Büro von Kerstin erhalten Katrin und ich gleich noch einen zweiten dieser Beutel und die nächsten zehn Minuten bin ich erstmal damit beschäftigt, alle doppelten Exemplare auszusortieren. Ein Tag im Bundestag lohnt sich also auch für Schnäppchenjäger… Spaß beiseite, die Bücher sind sehr interessant und enthalten neben politischen und geschichtlichen Informationen auch Erläuterungen zur Architektur und ausgestellten Kunst im Reichstag und den Bürogebäuden der Abgeordneten.
Gegen 17:00 Uhr bringt Heidi Katrin zum Bahnhof und weil Kerstin zu einer namentlichen Abstimmung über Steuerfreiheit der Zuschläge für Sonntags- Feiertags- und Nachtarbeit muss, werde ich auf der Plenarebene in eine Art Vorraum gesetzt, in dem sich mehrere breite schwarze Sofas, ein Fernseher und Couchtische befinden. Im Fernsehen läuft die Plenarsitzung, die zeitgleich stattfindet. Im Reichstag findet man sämtliche dieser Fernseher, so steht auch in Kerstins Büro einer. Ich nehme auf einem der Sofas Platz und bin auf einmal wie vom Schlag gerührt: In der Mitte der Couchtische liegt jeweils eine aufgefaltete Serviette und auf diesen Servietten liegt jeweils ein Haufen von Gummibärchen. Ist das deutsche Parlament jetzt schon so arm, dass es sich keine Schüsseln mehr leisten kann? Nachdem ich ein wenig ferngesehen habe, nehme ich einen Block aus meiner Handtasche, um mir meine bisherigen Eindrücke vom Bundestag zu notieren. Als ich nach einer Weile aufblicke, sehe ich Franz Müntefering vorm Fernseher stehen. Ich muss zweimal hinsehen, um zu glauben, dass er das wirklich ist. Es ist schon verrückt, wie selbstverständlich hier herumzusitzen mit Leuten, die man sonst nur aus den Medien kennt.
Als Müntefering den Raum verlassen hat, steht eine Abgeordnete von einem benachbarten Sofa auf und öffnet eine Schublade des Fernsehtischchens. Sie nimmt eine große goldene Tüte mit kleinen bunten Weingummis heraus und schüttet die Haribo Goldbären auf die Serviette ihres Couchtisches. Der Gummibärenberg ist nun so groß, dass er weit über die Ränder seiner weißen Stoffunterlage hinausreicht.
Ein ohrenbetäubender elektrischer Ton reißt mich aus meinen Gedanken. Es klingt, als wäre es der letzte Alarm vor einem Bombenanschlag, soll aber nur ankündigen, dass jetzt eine Abstimmung stattfindet. Ich habe diesen Ton schon öfter gehört und mich gefragt, wie viele der Abgeordneten hörgeschädigt sind und wie viele es wohl durch diesen Lärm erst werden.
Unwesentlich später kommt Kerstin, um mich abzuholen. Ich ziehe eine große Karre mit besagten Zentnerbeuteln, weil meine Abgeordnete jetzt ein Gespräch mit einer Schulklasse aus der IGS List in Hannover hat, deren Schüler natürlich auch nicht ohne ein kleines Präsent nach Hause fahren sollen.
Die Klasse ist wirklich vorbildlich und stellt Kerstin so viele Fragen, dass sie ungefähr eine halbe Stunde überzieht.
Gegen halb acht habe ich Feierabend – ich war heute länger als zwölf Stunden im Deutschen Reichstag!

Am nächsten Morgen verfahre ich mich mehr oder weniger glücklicherweise nicht mit der U-Bahn. Mehr, weil ich diesmal nur ein Kurzstreckenticket lösen muss, weniger, weil ich eine halbe Stunde zu früh am Treffpunkt ankomme. Sieben Uhr. Es sind gefühlte 0°C. Ich zittere wie Espenlaub und beschließe, einen kleinen Spaziergang am Reichstagsufer entlang zu machen, weil es in der Sonne dort sicherlich wärmer ist als hier im Schatten. So wesentlich ist der Unterschied jedoch nicht, wie ich leider feststellen muss. Dafür mache ich eine interessante Entdeckung: Die Hauptstudios von RTL und n-tv in Berlin teilen sich offensichtlich ein Gebäude. Verwunderlich.
Nachdem ich am Gebäudekomplex der Reichstagsverwaltung einmal auf und ab gelaufen bin, kehre ich zurück zum Eingang des Jakob-Kaiser-Hauses, vor dem jetzt ein Mann mit einem Plakat und lauter handgeschriebenen Handzetteln steht, von dem er mir einen in die Hand drücken will. Ich lehne dankend ab. Erst als ich eine Weile gewartet habe, lese ich, was auf seinem Plakat steht: „Ich war einsprizen von AIDS Nachrichten Dienst Rumäne. Hier ist Beweis“. Erst nachdem ich die Sätze dreimal gelesen habe, meine ich, ihren Inhalt richtig zu verstehen. Entsetzt bemühe ich mich wegzusehen. Hätte ich den Handzettel doch annehmen sollen? Damit wenigstens einer dem Mann ein wenig Mitgefühl zeigt? Alle anderen, denen er seine Schriftstücke anbietet, ignorieren ihn nämlich einfach. Nur eine ältere Frau, die zum Rauchen vor die Tür kommt, geht auf ihn ein. Aus den Wortfetzen, die ich aufschnappen kann, entnehme ich, dass sie ihm offenbar rät, zum Rathaus zu gehen, er aber weicht nicht von der Stelle. Die Frau verschwindet wieder im Gebäude, als sie fertig mit ihrer Zigarette ist.
Pünktlich um halb acht wird Kerstin mit einem schwarzen glänzenden Auto vor der Tür abgesetzt. Wegen der Kälte läuft meine Nase inzwischen ohne Unterlass und meine Hände sind wie Eis. Kerstin begrüßt mich, nimmt dem auf sie einredenden Rumänen eins der Blätter ab, dann begeben wir uns (endlich!) ins Warme. In ihrem Büro angekommen wirft sie einen Blick in die Hannoversche Allgemeine, während ich mir den Zettel durchlese, den der Mann vor der Tür ihr gegeben hat. Wie die Aufschrift des Plakats ist auch dieser Text in sehr brüchigem Deutsch geschrieben. Er handelt von einer für jemanden wie mich nahezu unglaublichen Geschichte: Der Rumäne schreibt, er sei vor 20 Jahren scheinbar ohne Grund vom Geheimdienst Rumäniens und auch von Geheimdiensten anderer Länder verfolgt worden. Er habe nach zehn Jahren erfahren, dass sich der militärische Nachrichtendienst Rumäniens in amerikanische und russische Anhängerschaften aufspalte. Letztere hätte seinen Vater und andere seiner Familienmitglieder sowie zwei seiner Kameraden aus der Armee umgebracht, weswegen er sie angeklagt habe. 1994 habe das Rumänische Parlament über seine Lage Bescheid gewusst und in der Zeitung „Freies Rumänien“ sei über ihn berichtet worden, woraufhin dafür gesorgt worden sei, dass er in eine Psychiatrie eingewiesen und als irre erklärt wurde. Sein Haus sei im Jahre 1996 vom militärischen Nachrichtendienst Rumäniens beschlagnahmt worden. 2001 habe er vor der Amerikanischen Botschaft einen Hungerstreik gemacht, damit die Geschichte endlich aufflog. Jedoch habe man ihm HI-Viren injiziert, während er im Koma lag, um eine Affäre mit dem amerikanischen Botschafter vorzutäuschen, der ein Homosexueller gewesen sei und ihm die Viren angeblich übertragen haben sollte. Daraufhin habe er geschrieben, dass der amerikanische Botschafter keineswegs homosexuell gewesen sei, sondern vom CIA dazu gezwungen worden sei, so zu tun als ob, da der Direktor des CIA ein Agent vom KGB gewesen wäre. Diese Entdeckung habe sogar den englischen Geheimdienst und den CIA überrascht und führte dazu, dass der Direktor des CIA suspendiert wurde… Hier endet der Text auf dem Zettel, jedoch nicht die Geschichte, denn es gibt offenbar noch eine dritte Seite, wie auf dem Blatt zu lesen ist. Diese aber hat er uns in unserer Eile wohl aber nicht geben können. Natürlich ist es mehr als fraglich, wie viel an dieser Geschichte dran ist, trotzdem bringt sie mich zum Nachdenken. Lassen Sie uns für einen Moment glauben, diese Geschichte ist wahr. Unschuldige Menschen müssen aufgrund irgendwelcher verworrenen Zusammenhänge von bestimmten Interessengruppen ihr Leben lassen. Menschen, die dies an die Öffentlichkeit bringen wollen werden gepeinigt und für irre erklärt. Menschen, die ihr halbes Leben lang verfolgt und gequält wurden und dafür einen Beweis haben, werden einfach stehen gelassen. Wie rücksichtslos können Menschen sein? Es gibt genügend Fälle, die sind wie dieser. Die wahr sind. Die aber niemals an die Öffentlichkeit kommen. Weil wir die Augen schließen, das nicht hören wollen. Uns ist die Version lieber, dass diese Leute, die uns solche Schaudergeschichten unter die Nase reiben, in psychiatrische Behandlung gehören, dass diese Leute irgendwie nicht normal im Kopf sind.

Der erste Termin, zu dem ich heute mit Kerstin gehe, ist ein Frühstück des Parlamentarischen Beirats für Bevölkerung und Entwicklung. Eine Sprecherin aus dem United Kingdom ist eingeladen, um die Aktivitäten der englischen Parlamentariergruppe in Bezug auf die Millennium Entwicklungsziele vorzustellen. Daher findet diese Sitzung auch auf Englisch statt. Der Schwerpunkt der Sitzung ist die Idee, einheimischen Afrikanern das notwendigste Wissen, also Schreiben, Lesen und ein bisschen zum Thema Gesundheit beizubringen, damit sie dies an die Kinder weitervermitteln können. Das Problem sei, dass man mehrere Millionen dieser einheimischen Lehrer ausbilden müsste, um die Kinder in Klassen von fünfzig Schülern zu unterrichten, was ziemlich kostspielig sei. Aber ich frage mich wirklich, warum bei so etwas Wichtigem an den Kosten herumgenörgelt wird, obwohl diverse zahlungsfähige Länder daran teilhaben. Dagegen schmeißt man für eine Schweinegrippeimpfung mal eben eine Milliarde aus dem Fenster, nur weil die Medien ein paar Todesfälle, die mutmaßlich durch das entsprechende Virus verursacht worden sind, für die Pharmaindustrie ausgraben. Dass durch die herkömmliche Grippe dagegen trotz Vorhandenseins eines Impfstoffes jährlich mehrere tausend Menschen allein in Deutschland zu Tode kommen, wird nicht erwähnt.
Wie auch immer, die Frühstückssitzung des Parlamentarischen Beirats ist sehr interessant und mir wird eine Art ausgedruckte Powerpoint-Präsentation über die Entwicklungsziele auf Englisch ausgehändigt.
Zwischen neun und zehn habe ich eine Stunde lang Pause, in der ich es mir mit Kerstins Fernseher und einem Cappuccino nett mache – ich sehe mir die laufende Plenarsitzung an, falls hier gerade jemand an etwas anderes dachte! −, danach geht es weiter zu einem internen Fachgespräch zur von der EU Kommission geplanten Harmonisierung der Verbraucherrechte. Kerstin und eine andere SPD-Abgeordnete aus der AG Recht haben hierzu unter Anderem Vertreter der Verbraucherzentrale eingeladen. Während des zweistündigen Gesprächs gibt es Kaffee und Kekse, besonders bei einer der Teilnehmerinnen scheinen letztere sehr gut anzukommen. Diese Person scheint auch gerne kleine Kuli-Zeichnungen auf ihren Unterlagen anzufertigen, was mich sehr an die Kunstwerke erinnert, die hin und wieder in meinem Lateinheft entstehen. Kunst macht eben auch vor dem Bundestag keinen Halt.
Das letzte Treffen, das ich bei meinem Praktikum besuche, findet mit der AG Finanzen statt, es geht um einen Antrag der SPD zum Verbraucherschutz auf Finanzmärkten. Zwar ist es spannend für mich zu sehen, wie gründlich so ein Antrag ausarbeitet und verbessert wird, jedoch ist es für mich als Außenstehende schwierig, die Details zu verstehen, da ich nicht wirklich vertraut mit dem Thema Finanzen bin. Nach den anderthalb Stunden, die die Sitzung dauert, schwirrt mir regelrecht der Kopf.
Wir gehen ein letztes Mal in Kerstins Büro, um meine Sachen zu holen und ein Foto zu machen, dann verabschiede ich mich von ihr und Heidi. Den Weg zum Ausgang des Jakob-Kaiser-Hauses gehe ich allein und lasse die außergewöhnliche Umgebung noch einmal richtig auf mich wirken. Dieses Unwirkliche, irgendwie Zauberhafte ist immer noch da. Auch habe ich nach wie vor das Gefühl, mitten in einem Film zu stehen. Um mich herum geschehen alle Handlungen, nur ich stehe still. Es wird Zeit, dass ich auch wieder handlungsfähig werde. In meinem eigenen Film. Also verlasse ich nach diesem letzten Zögern die Welt der deutschen Spitzenpolitik. Als ich wieder die Straße betrete, scheint mir die Sonne warm ins Gesicht.

Vor und auch noch während meines Praktikums habe ich mir häufig die Frage gestellt, ob ich auch Bundestagsabgeordnete werden könnte. Wie schon gesagt, finde ich es wahnsinnig mutig, Verantwortung für einen bestimmten Bereich zu übernehmen, den man sich vielleicht nicht einmal aussuchen kann. Zum anderen halte ich es für unglaublich schwierig zu differenzieren, wo man einschreiten sollte und wo nicht. Soll ich mir Zeit für einen Mann nehmen, der behauptet HI-Viren injiziert bekommen zu haben oder lieber pünktlich zu meiner Arbeit kommen, die im Moment sowieso nicht viel einbringt, weil die Regierung die Anträge meiner Fraktion in der Regel ablehnt? Was ist gerecht und was nicht? Und was ist gerechtfertigt? Die restlichen Tage, die ich in Berlin verbracht habe, hatte ich häufig Anlass, mich das zu fragen. Am Samstagabend war ich mit meinen Großeltern bei den Hackeschen Höfen. Vor der S-Bahn Haltestelle, bei der wir ausgestiegen waren, lagen zwei etwas ungepflegte gepiercte und tätowierte junge Männer herum, die augenscheinlich schliefen. Vor ihnen standen leere Flaschen herum. Ein anderer junger Mann, man könnte fast noch Junge sagen, lief mit einer Plastiktüte durch die Gegend und steckte zwei dieser Flaschen ein. Auf einmal rief jemand: „He, der klaut eure Flaschen!“, woraufhin meine Großmutter dem Jungen sagte, er solle weglaufen, was dieser aber nicht tat. Daraufhin kamen die gepiercten Männer auf den Jungen zu, drängten ihn drohend ins Gebüsch wie zwei Köter, in deren Revier ein fremder Hund auftaucht. Sie waren kurz davor, auf ihn loszugehen, als sich ein Außenstehender einmischte. Inzwischen hatte sich eine regelrechte Ansammlung Schaulustiger gebildet. Zwei redeten auf die jungen Männer ein und der Junge hörte endlich auf den Rat meiner Großmutter und verschwand. Wer ist hier im Recht? Diese Frage ist noch relativ einfach zu beantworten, es sollten die zwei Männer sein, die die Besitzer der leeren Flaschen sind. Aber ist es gerechtfertigt, dass diese gleich auf den Dieb einprügeln?
Als wir um viertel vor zehn zurück zu unserem Hotel fahren wollten, stand ein älterer Mann mit einer Holzkiste voller wunderschöner gelber Tulpen auf dem Bahnsteig und versuchte, diese zu verkaufen. Er hatte sie aus dem Blumenbeet, das sich vor dem Bahnhof befand, geklaut. Sollte man die Tulpen kaufen, um dem Mann zu helfen oder darf man das nicht tun, weil sie geklaut sind? Müsste man ihn vielleicht sogar anzeigen?
Wenn man Politiker ist, muss man auf diese Fragen eine Antwort wissen, andernfalls ist man ein gefundenes Fressen für das schwarze Loch der Medien, wenn man einen vermeidlichen Fehler macht. Dabei unterscheidet sich das Empfinden von Mensch zu Mensch, was nun richtig und was falsch ist. Man ist gefesselt an irgendwelche irrationalen Erwartungen und weiß nicht einmal genau, welche es sind. So sehe ich das zumindest. Sicher gibt es Menschen, die, selbst wenn sie von den Medien durch den Kakao gezogen werden, es irgendwie schaffen ihr gutes Bild zu wahren. Aber für mich persönlich wäre das nicht möglich. Ich höre lieber den Musikern zu, die für zwei Stationen in die U-Bahn steigen, für nette Unterhaltung sorgen, dann Geld einsammeln, um danach in den nächsten Wagon umzusteigen, anstelle mich zu fragen, ob das jetzt illegal ist oder nicht.